Waldrose
Es war einmal ein junges Mädchen, Rose genannt, das mit
seinen fünf kleinen Geschwistern am Rande des großen Waldes lebte. Ihre Eltern
hatten sie während einer langen Dürreperiode aus Not zurückgelassen. So lebten
die sechs Geschwister in bitterer Armut. Rose, die sich als Älteste um ihre
kleinen Geschwister kümmerte, bemerkte eines Tages, als der Winter vor der Tür
stand, dass dem Haushalt der kleinen Familie das Feuerholz zur Neige ging.
Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als
die alte Axt, die ihr Vater zurückgelassen hatte, aus dem Schuppen zu
holen und sich auf in den Wald zu machen, um Holz zu hacken.
Als sie aber im Wald angekommen war und ihre Axt erheben
wollte, überkam sie ein Unbehagen. Der Wald kam ihr plötzlich so lebendig und zauberhaft
vor, so dass sie es kaum noch wagte, ihre Axt mit all ihrer Leibeskraft in das
Holz zu schmettern. Doch kamen ihr sogleich ihre hungrigen Geschwister in den
Sinn und sie schöpfte den Mut, sich an die Arbeit zu machen. Nachdem sie
vier Stücke Holz gehackt hatte, sank sie vor lauter Erschöpfung nieder. So
beschloss sie, sich einen Moment auszuruhen und fiel in einen unruhigen Schlaf.
Im Traum wurde sie von einem bösartigen Troll heimgesucht, der zu ihr sprach: „Kleines
Mädchen, was machst du denn da so alleine im Walde?! Merkst du denn nicht, dass
du hier fehl am Platze bist?! Und schämst du dich nicht, den Wald derart
zu plündern und dich so an der Natur zu bereichern? Geh jetzt nach Hause und
wage es nicht wiederzukommen, sonst wird dir etwas Schreckliches
passieren!" Erschrocken fuhr sie aus ihrem Schlaf und machte sich ganz
benommen auf den Weg nach Hause. Dort erwarteten sie schon ungeduldig ihre fünf
hungrigen Geschwister, die ihre warme Suppe mit Wonne genossen.
Am nächsten Tage begab sie sich unter den Klagen ihrer
hungrigen Geschwister abermals in den Wald. Und wieder versank sie vor lauter
Erschöpfung in den Schlaf. Und wieder erschien ihr der böse Troll. „Kleines
Mädchen, warum bist du denn schon wieder hier?! Hast du denn meine gestrigen
Worte nicht gehört? Geh jetzt nach Hause. Ich warne dich. Es wird
etwas Schreckliches passieren!"Abermals ging sie wie betäubt und
schlechten Gewissens nach Hause. Sie sagte sich: „Ich darf nicht wieder in den
Wald gehen. Es muss eine andere Möglichkeit geben, um die hungrigen Mäuler zu
stopfen." Vor lauter Grübeln machte sie in dieser Nacht kein Auge zu. In
den frühen Morgenstunden traf sie schließlich die Entscheidung, ins Dorf
aufzubrechen und ihre alte Tante, die sie als Kind verstoßen hatte, um Hilfe zu
bitten.
Als sie gehen wollte, lief ihr ihr zweitjüngster Bruder
hinterher: „Röschen, Röschen, mein liebes Schwesterlein warte! Der kleine Peter
ist krank. Er zittert vor Fieber und braucht dringend ein warmes
Süppchen." Da blieb ihr nichts anderes übrig, als kehrt zu machen und sich
in den Wald zu begeben. So erhob sie trotz schlechten Gewissens ein drittes Mal
die Axt. Doch bevor die Axt die Baumrinde nur berühren konnte, zerschellte sie
in der Luft und die donnernde Stimme des Trolls erhalte: „Wagst du es ein
drittes Mal den Wald zu betreten und Übles zu tun?! Ich habe dich
gewarnt!" Noch im selben Moment verschwand der Troll samt dem Holz mit
einem lauten Donnern.
Nach einem kurzen Moment des Entsetzens beschloss sie sich
auf die Spur des Trolls zu machen, um ihr Holz, das sie doch so dringend
brauchte, wiederzubekommen. So verfolgte sie den Troll und schlug sich durch
die Sträucher und Büsche, bis sie auf eine Lichtung kam. Sofort bemerkte sie
die verwunschene Atmosphäre dieses Ortes. Aber keine Spur vom Troll. Als sie
sich umsah, fiel ihr Blick auf ihren Holzstoß, der unter einer alten mächtigen
Eiche lag, und vor lauter Freude lief sie auf ihn zu. In dem Augenblick, als sie das Holz berühren
wollte, hielt sie eine hölzerne Hand zurück. Sie drehte sich um und sah
niemanden. Dann hörte sie plötzlich eine tiefe drohende Stimme: „Mein treuester
Diener, mein lieber Troll Ewo, hat dich drei Mal gewarnt, doch du wolltest
nicht gehorchen."
Rose brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, wer zu ihr
sprach. Es war die alte mächtige Eiche, die in der Mitte der kleinen Lichtung
stand. Da bekam sie Angst, denn einen sprechenden Baum hatte sie noch nie gesehen.
Dann fuhr die Eiche fort. „Mein armes Kind, du musst begreifen, dass du mit
deinem zügellosen Verhalten dem Wald schadest. Du kannst nicht so viel Holz
hacken, wie du möchtest, denn dadurch zerstörst du die Natur."
Verzweifelt widersprach Rose: „Liebe mächtige Eiche verstehe
doch bitte, dass ich das Holz dringend brauche. Es ist so bitter kalt und meine
kleinen Geschwister frieren. Ohne das bisschen Holz werden wir entweder
jämmerlich erfrieren oder Hungers sterben. Verstehe doch, dass mir nichts
anderes übrig bleibt!"
„Mein Kind",
erwiderte die Eiche, "ich verstehe deine Not. Doch ist es keine Lösung,
den armen Wald für deine persönlichen Probleme zu bestrafen. Den Wald mit allen
seinen Bewohnern! Weißt du denn gar nicht, wem du alles mit deinem egoistischen
Verhalten geschadet hast?" Die Eiche fuhr mit ihrem holzigen Arm tief in
ihr dichtes Geäst und holte sieben Eichhörnchen hervor. Die kleinen Geschöpfe
sahen allesamt kränklich aus und das jüngste, das kaum größer war als Roses
Daumen, schluchzte kläglich.
„Was ist mit ihnen geschehen?", stieß sie entsetzt mit
heiserer Stimme hervor.
„Das sind die Bewohner der Bäume, die du geschlagen hast!
Diese Familie hat nun kein Zuhause mehr.
Glücklicherweise haben sie es mit Mühe und Not geschafft, sich bis zu mir
durchzuschlagen. So konnte ich sie fürs erste beherbergen. Begreifst du jetzt,
was du angerichtest hast?!"
„Ja", sagte Rose ganz betroffen, während ihr die Tränen
über die Wangen liefen. „Ich verspreche euch, dass ich nie wieder den Wald und
seine Bewohner stören werde".
In diesem Augenblick
geschah etwas Unglaubliches. Mit einem lauten Knall verschwand die Eiche in
einer Staubwolke. Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Staub legte und Rose
wieder klar sehen konnte. Dann erblickte sie die sieben Eichhörnchen, die
gesund und munter aus dem Staub hervorsprangen und im Wald verschwanden. Völlig
überrascht begann sie nach der Eiche zu suchen. Als sie sich der Stelle
näherte, wo der Baum zuvor fest verwurzelt stand, sah sie einen Jungen ihres
Alters im Moos sitzen.
„Wer bist du? Was machst du hier? Und wo ist die Eiche
geblieben?", rief Rose aufgeregt. "Beruhige dich", sagte der
Junge. Merkwürdigerweise erinnerte sie die Stimme an jemanden. „Ich bin oder
besser ich war die Eiche! Und ich bin dir zu großem Dank verpflichtet".
Rose sah den Jungen ungläubig an. Dann fiel ihr Blick auf
seine teuren Kleider.
„Rose, ich bin der verschollene Sohn des Königs. Du hast
sicher schon von meiner Geschichte gehört. Ich ging eines Tages wie so oft im
Wald jagen und kehrte nie wieder zurück."
Tatsächlich kannte Rose die Geschichte des Prinzen, doch
hatte sie sie nie für wahr gehalten. „Pass gut auf Rose. Ich werde dir alles
erklären. Zwei Mal ging ich in diesem Wald jagen und beide Male wurde ich wie
du auch vom Troll, dem Diener des Waldes, gewarnt. Doch wollte ich nicht auf
ihn hören und jagte weiter, aber nicht weil ich das Fleisch zum Überleben
brauchte, sondern aus purem Vergnügen, da die Jagd meine Leidenschaft war.
Als ich zum dritten Mal im Wald auf die Jagd ging, verwandelte mich der Troll
in eine Eiche, um den Wald vor mir zu schützen und um mich zu bestrafen. Doch
gab mir der Wald noch eine Chance, um diesen Bann zu lösen und wieder ein
Mensch zu werden. So war es meine Aufgabe, einen anderen Menschen, der sich am
Wald bereicherte, von seinem Unrecht zu überzeugen. Und dieser Mensch bist du!
Du hast dich überzeugen lassen und so wurde ich wieder ein echter Junge. Vielen
Dank liebe Rose. Da du mir so sehr geholfen hast und da du trotz deiner eigenen
Not dein Unrecht verstanden hast und ehrlich auf das Holz verzichten wolltest,
möchte ich dir nun auch einen Dienst erweisen."
Da begleitete der Prinz Rose nach Hause und begab sich
selbst auf den Weg zum Schloss seines Vaters, der über die Rückkehr seines
verschollenen Sohnes überglücklich war. So kam der Prinz nach einer Woche und
einem Tag zu Roses ärmlicher Hütte zurück, um um ihre Hand anzuhalten. Rose,
der der Prinz nicht mehr aus dem Sinn gegangen war, war natürlich mit der
Hochzeit einverstanden.
Nach der Hochzeit nahm der Prinz Rose und all ihre
Geschwister mit auf sein Schloss und ihre Armut war vergessen.
So lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer
Tage.
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